Abschied aus Vinland
Der Nebel hing noch bis in die späten Morgenstunden nahezu greifbar in den Klippen. Von der Burg hoch oben aus waren die Schiffe nicht zu sehen, die im erst letztes Jahr provisorisch angelegten Hafen lagen. Voll gepackt mit Hab und Gut. Laut dröhnend von all dem Stimmengewirr und den Lauten der mehr oder weniger verängstigten Tiere, die man unter Deck untergebracht hatte.
Die letzte Ernte war eingefahren. Zeit zum Aufbruch. Hier gab es nichts mehr zu tun. Auf diesen Tag hatten sie alle die letzten Monate, seit der Verkündigung zum Hreinsunfest, hin gearbeitet.
Noch einmal versammelte der Dominus Lucis alle Bewohner im Burghof von Arx Lucis. Dicht gedrängt standen die Lichtritter und die Angestellten an jedem Flecken, auf jeder Zinne und an jedem Fenster. Lumen van Heeter richtete mit lauter, fester Stimme das Wort an die erwartungsvollen Zuhörer:
„Meine Brüder, meine Weggefährten und getreuen Begleiter! Der Tag des Aufbruchs ist gekommen. Heute werden wir den Worten unseres Herren folgen und seinen Willen erfüllen, Voltar, Vinland für alle Zeiten zu verlassen. Für uns mag es eine ungewisse Zukunft sein, in die wir reisen. Aber Jochrim, unser Vater und Beschützer, hat einen Plan für uns, der so viel größer ist, als wir es uns im entferntesten vorstellen können. Er wacht über uns. Niemals war das so greifbar, wie in diesen Tagen, in denen wir durch sein Wort geleitet werden. Habt Vertrauen! Geht mit einem Lobgesang auf den Herren von diesem Ort, den wir unsere Heimat nannten. Jochrim, der Unerbittliche, wird seine schützende Hand über uns halten und unsere Pfade lenken.“
Jubel bestätigte die Worte des Dominus Lucis, der sich nach einer kurzen Pause noch einmal an die Versammelten wandte:
„Die Zeit ist gekommen, da ich mich von Euch verabschieden muss. „ - Geschockte Stille trat augenblicklich ein. „Ich übergebe Euch und jedes einzelne Eurer Schicksale vertrauensvoll in die Hände Jochrims. Bruder Wil wird die Reise anführen. Es ist nicht sein erster Auszug ins Ungewisse, doch wird diesmal keine verfluchte Magie seine Pfade behindern. Denn einzig der Wille Jochrims wird es sein, der Euch leitet.
Mein Platz und meine Aufgabe sind hier an diesem Ort! Für alle Zeiten! -
Nun geht! Der Segen des unerbittlichem Lichtes begleite und beschütze Euch!“
Nach dieser Ansprache standen selbst den gestandensten Kämpfern Tränen in den Augen. Viele von ihnen verließen nicht zum ersten Mal ihre Heimat. So manch einer fühlte sich zurück versetzt und spürte neben dem aktuellen Verlust auch all jenes, was er an Heim und Familie vor gerade mal einem Dutzend Jahren zurück gelassen hatte. Abermals sollte es in eine ungewisse Zukunft gehen.
Nur langsam leerte sich der Burghof und die ersten Trupps formierten sich zum geschlossenen Aufbruch hinunter zum Hafen. Ein jeder blickte noch einmal zurück zu den weißen Mauern, auf dessen Zinnen nun Lumen über den Auszug der seinen wachte.
Vier große Schiffe, begleitet vom Stolz der Marine, der „Ann-Marie“, lagen bereit, um die 200 Brüder und die etwa 500 Bewohner der umliegenden Dörfer, die sich ihnen anvertraut hatten, in den Osten zu tragen.
Als sie schließlich soweit waren, dass die Insel gerade noch deutlich am Horizont zu sehen war, ging dort auch schon beinahe die Sonne unter. Ein malerisches Bild verabschiedete die Reisenden. Und gerade, als die Sonne direkt hinter den Felsen Voltars ins Meer eintauchte, explodierte ein riesiger weißer, kugelförmiger Blitz oben auf den Klippen, auf denen Arx Lucis stand. Eine Staubwolke unglaublichen Ausmaßes erhob sich in den Himmel. Und wer von dem grellen Licht nicht völlig geblendet war, konnte mit scharfem Auge noch sehen, wie die Weißen Mauern der Festung samt den Felsen, auf denen sie stand, unter lautem Getöse ins Meer stürzten.
Das war also die Aufgabe, von der der Dominus Lucis gesprochen hatte. Die Festung – und insbesondere den nicht transportablen Inhalt der Bleikammern – für alle Zeiten gegen den Zugriff des Feindes zu schützen. Jeder Bruder wußte bei diesem Anblick, dass Lumen damit das größte Opfer überhaupt gebracht hatte. Er würde nicht an die Tafel Jochrims ziehen. Nicht, bevor der Letzte Kampf der großen Schlacht vorüber sei. Er würde über diesen Ort wachen. Und so dauerte es nicht lange, bis sich unter den Brüdern der neue Name ihrer alten Heimstatt verbreitet hatte: Lumens Grab.
Eine große Flutwelle, ausgelöst durch den Sturz der Festung, erfasste die gesamte Flotte und trug sie wie schwimmende Korken Richtung Osten – ihrer Zukunft entgegen.